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Spielstand #13: Der Zufall spielt immer mit

V. l. n. r.: Gunter Gebauer, Christoph Biermann, Jan Engelmann. Fotografin: Cristina Gómez Barrio. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

16. Juni 2010
Von Timon Mürer
Von Timon Mürer

Was haben die Enthauptung Ludwig des XVI., der Mythos des ehrlichen Malochers und die Kunst des Sehens gemein? Die Antwort: Fußball. Immer wieder erweist sich, dass beim Reden über dieses globale Spiel kulturelle Tiefenschichten und überraschende Querverbindungen zu Tage treten. So auch bei der Veranstaltung „Mittelmaß und Wahn – Zur Ästhetik des modernen Fußballs“, die kurz vor WM-Beginn in der Heinrich-Böll-Stiftung stattfand.

Etwa 50 Unentwegte waren am 8. Juni bei schönstem Fußballwetter in die „Heinrich-Böll-Arena“ gekommen und füllten die grünen Teppichstufen am Aufgang zur Beletage. In der Reihe Spielstand stand die Ästhetik eines Sports zur Diskussion, der schon durch seine weltweite Beliebtheit und Verbreitung in besonderer Weise kulturell aufgeladen werden kann. Zwei ausgewiesene Kenner der Materie hatten sich zum unterhaltsamen Talk eingefunden: Zum einen der Kölner Journalist und Buchautor Christoph Biermann, der zuletzt den erfolgreichen Titel „Die Fußball-Matrix“ vorgelegt hat. Zum anderen der Philosoph Gunter Gebauer Professor an der Freien Universität Berlin, wo er das Projekt „Die Aufführung der Gesellschaft in Spielen“ innerhalb des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ leitet. Sein Buch „Die Poesie des Fußballs“ (2006) ist ein Meilenstein in der kulturanthropologischen Beschäftigung mit diesem Sport.

Drei Tage vor Beginn der Weltmeisterschaft in Südafrika fragte Moderator Jan Engelmann zunächst danach, was eine WM auch für Fußball-Nichtinteressierte interessant mache. Ist es womöglich das affektive Erlebnis einer „nationalen Erregungsgemeinschaft“, wie Peter Sloterdijk einmal gemutmaßt hat? Für Gunter Gebauer hat die WM durchaus die Funktion, „Nationen durch Repräsentanten sichtbar“ zu machen. Ein Gutteil des Interesses an Jogi Löws runderneuerter deutscher Mannschaft rühre wohl auch daher, dass sie gleich ein halbes Dutzend Spieler mit Migrationshintergrund aufweise. Gebauer spekulierte gar, der legendäre Kopfstoß Zinedine Zidanes im Finale der WM 2006 entspräche in der pluralen Einwanderungsgesellschaft symbolisch der Enthauptung Ludwig des XVI.

Malochen, Männer, Messi

Könnte man – angesichts dieser kulturalistischen Lesart – Fußball nicht auch als Kunst beschreiben? Richtig festlegen wollte sich Christoph Biermann da nicht und bot stattdessen die Definition der „offenen Spielform“ an, bei der man auf einen „emotionalen Trip“ genommen werde. Fußball funktioniere auf vielen Ebenen als Erzählung – von der feinstofflichen bis hin zu dem „gigantischen Stoffberg“, der jedem und jeder immer etwas als Gesprächsangebot liefere. Dem konnte Gebauer voll zustimmen und fügte hinzu, dass der Fußball aber auch Geschichten produziere, die über ihn hinausweisen. Er erinnerte an das „Wunder von Bern“ 1954, als Sepp Herbergers Elf die Tatkraft der Wirtschaftswunder-Generation ins Bild setzte. Dieser Heldenmythos vom Erfolg der „ehrlichen Malocher“ verband sich mit dem Mythos vom Aufstieg des kleinen Mannes – nicht als Spiegel der sozialen Wirklichkeit, sondern als imaginäre Konstruktion.

Vor allem in den Ausführungen Gebauers blitzten aber immer wieder höchst interessante Trouvaillen auf. So zum Beispiel, als er in einer kulturanthropologischen Skizze einige essentielle Muster des Sports aufwarf und vom grundlegenden Motiv des maskulinen Kampfes umstandslos zur Zerstörung des gegnerischen Hauses und der damit verbundenen Bedeutung des Torhüters dribbelte. Diese Ästhetik der Gewalt finde jedoch ihr Gegenüber in einem Verständnis des Spiels, das wesentlich durch sein „Handverbot“ geprägt ist. Im ständigen Versuch, geschmeidige Körperbewegungen und elegante Spielzüge zu inszenieren, zeige der Fußball eine große Nähe zu den am Rhythmus orientierten Kunstformen Tanz und Poesie.

Auch Christoph Biermann konstatierte ein Zusammenspiel des Primitiven mit dem Hochartifiziellen, löste es aber in die Richtung auf, dass es um das Ineinandergreifen von Vorgaben und Improvisation gehe. Gerade der zeitgenössische Fußball, dem durch seine taktischen Korsetts immer wieder Kreativitätsfeindlichkeit vorgeworfen wird, werde durch seine konsequente Choreographie eher kultivierter. Allerdings benötige es zum Erfolg immer auch „das Moment der Inspiration“, ablesbar an großen Individualisten des Weltfußballs wie Lionel Messi oder Cristiano Ronaldo.

Faszination Fussball. Fotografin: Cristina Gómez Barrio. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons-Lizenz.

Ein Weltenschöpfer namens Volker

Der Ball war nun schön im Rollen, was Jan Engelmann womöglich zu der Feststellung veranlasste, dass sich die Faszination des Fußballs wohl nicht zuletzt auf die Rolle des Zufalls gründe, die sich etwa anhand von „Flatterbällen“ oder falschen Tatsachenentscheidungen des Schiedsrichters erweise. Dies inspirierte Gunter Gebauer zu einem weiteren kulturinterpretatorischen Lauf, an dessen Ende die Erkenntnis stand, dass der Zufall nicht zuletzt dem besonderen Zusammenkommen von (ungelenkem) Fuß und (rundem) Ball geschuldet sei. So sei der Ball, nicht sein Bezwinger, der eigentliche Protagonist des Spiels. Christoph Biermann hielt fest, dass im Fußball ein „andauernder Kampf gegen die Mächte des Zufalls“ zu beobachten sei. Die Tendenz zur Verwissenschaftlichung des Spiels laufe auf eine – wenn auch immer vergebliche – Strategie der Kontingenzbewältigung hinaus.

Im weiteren Verlauf widmete man sich eher klassischen Themen der Fußballphilosophie. So wurden Marcel Reifs Begeisterung für „infantile Spielfreude“ gegen Jogi Löws Ansatz einer unbedingten Systemtreue gestellt. Dabei verteidigte Christoph Biermann den analytischen Reiz des Spiels gegen die populäre Haltung, dass der magische Moment für die Faszination des Fußballs ausschlaggebend sei. Damit war das Stichwort für die Rolle des Trainers und möglicher normativer Konflikte ihrer Spielsysteme gegeben. Christoph Biermann fasste eindrücklich die umfangreichen Anforderungen an einen Spitzentrainer zusammen, der zugleich Analytiker, Psychologe für eine global zusammengewürfelte Truppe von aufmerksamkeitsabhängigen Millionären und besonnener Medienprofi sein müsse. Unumwunden bekannte er sich zu seiner Faszination für den Typ „Weltenschöpfer“, den er prototypisch in Arsenals Arsène Wenger oder Inters José Mourinho verkörpert sieht, nannte aber auch den ehemaligen Bondscoach Johan Cruyff und Freiburgs nachhaltigen Konzepttrainer Volker Finke als Meister ihres Fachs. Alle zeichneten sich nämlich durch die Fähigkeit aus, „sich eine Art Fußball auszudenken und erkennbar umzusetzen“. Dies sei durchaus vergleichbar mit künstlerischer Kreativität.

Wie sehr sich gerade das Kunstsystem für die Dynamiken und physischen Handlungen des Fußballs interessiert, zeigte auf der documenta 12 mustergültig die Videoinstallation „Deep Play“ von Harun Farocki. In ihrer Zusammenschau ansonsten voneinander getrennter Wahrnehmungsmodi bildet sie eine eigene Vision des „totalen Football“ hinaus, die Ästheten und Fans gleichermaßen begeistern dürfte. Fußball heißt hier vor allem: Sehen lernen. Auch daran erinnerte, im Vorgriff auf die akustischen Debatten um die Vuvuzelas in südafrikanischen Stadien, dieser gelungene Abend.

 

© Michael Rudolph, Andreas Töpfer

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